Mittwoch, 7. Januar 2015

1. An der Front: Kampf um den Douaumont - II

[23. Oktober 1916]
Um Mitternacht stößt mich jemand an: »Los, fertigmachen!« Ich raffe mich zusammen und stehe wieder in Reih und Glied.
Da kommt Leutnant Mohr aus den unteren Gängen herauf. »Abschnallen, wir gehen erst um drei Uhr – unmöglich jetzt bei dem Sperrfeuer!«
Die Alten brummen und nehmen ihren Platz wieder ein. Mich haben die paar Stunden Schlaf wieder frisch gemacht. Das ist der Vorteil der Jugend.
Ich pendele durch die Gänge des Forts. Überall, wo ich auch bin, verfolgt mich das Summen des Motors, der das Fort mit Licht und frischer Luft versorgt und dem ich es verdanke, dass ich vor wenigen Stunden den Eingang zum Fort gefunden habe.

Endlich ist es soweit! Wir treten an und werden gezählt – es fehlen sieben, die das Fort nicht erreicht haben.
Leutnant Mohr gibt noch einmal kurz und eindringlich Verhaltensregeln bekannt und dann steigen wir hinab über Treppen durch halbdunkle Gänge bis wir durch den zerschossenen Aufgang ins Freie gelangen.
Finsternis umfängt uns – drüben blitzen die Geschütze auf. Über uns hinweg gurgeln und jaulen die Granaten ihr altes Lied, hinter uns krepieren sie mit unheimlichem Getöse. Für einen Augenblick klopft das gequälte Herz wie immer, wenn es zum Angriff geht, dann wird es ruhig – eisern ruhig, als ob alles so selbstverständlich wäre – das Leben und das »Sterben«.
[...]
Nun stehen wir wieder draußen im Feuer. Ringsherum streckt der Tod seine Knochenfinger nach uns aus. Aber wir achten nicht mehr darauf. Der Tod ist uns ein Bekannter geworden – und vielen von uns sogar ein guter Bekannter.
Schweigend folgen wir einander durch den Laufgraben am Nordhang des Forts. Grundlos ist der Weg – der Schlamm läuft uns in die Stiefelschäfte hinein.
Ich kann nur noch in gebückter Haltung, die Hände ständig an den Strippen, vorwärtskommen. Glucksend und gurgelnd löst sich der Fuß aus dem Schlick. Eine Strippe reißt ab – noch eine – ich schneide Löcher in die Schäfte, der Rücken schmerzt.
»Verfluchte Schweinerei!«, flucht mein Vordermann. Er hat im Fallen beide Stiefel stecken lassen und steht nun bis über die Knie im Schlamm. Vergebens sucht er danach. Er muss barfuß zurück zum Fort und viele andere mit ihm.
Leutnant Mohr hatte recht daran getan, die Zeit unseres Aufbruches zu verlegen.
Das Gelände bis zur vordersten Stellung, welches wir jetzt mit Eilschritten durchmessen, wird nicht so stark beschossen. Die leichte Feldartillerie schickt nur einige kleine Sachen herüber, die wir weiter nicht ernst nehmen. Dagegen machen uns jetzt die Leuchtkugeln zu schaffen. Von beiden Seiten werden sie abgeschossen. Taghell ist das ganze Gelände beleuchtet. Drüben liegen die Franzosen auf der Lauer und versuchen abzuschießen, was sie in ihr Visier bekommen. Wir hocken in den Granatlöchern und warten auf einen günstigen Moment. Eben senkt sich das Licht zur Erde. Noch geblendet stolpern wir vorwärts. Platt und regungslos liegen wir wieder da, wenn sich die nächste Rakete entfaltet.
Vor uns sehen wir bereits die Reservestellung, den Bahndamm Fleury-Vaux. Etwa 200m sind es noch. Unteroffizier Hansen liegt plötzlich neben mir. »Ein glücklicher Zufall!«, denke ich, denn ich fühle mich an seiner Seite geborgen. Er kennt das Gelände wie seine linke Westentasche.
»Viel zu spät rausgekrochen!«, schimpft er vor sich hin. Sein geübtes Ohr hat bereits das von links einsetzende Sperrfeuer vernommen. Wie ein Orkan braust die Feuerserie heran, sie gilt der Reservestellung. Leuchtkugeln steigen auf.
[...]

Der Bahndamm Blick Richtung Westen, 2014
Nach zehn Minuten flaut das Feuer ab. Zwei Minuten später stehen wir am Bahndamm, ausgepumpt und erschöpft. Vor einem tiefen Stollen steht Leutnant Mohr. Er sieht Hansen – sie geben sich die Hand.
»Hat noch verhältnismäßig gut gegangen«, sagt er, »Sechs Verwundete, einer schwer, habe ihn eben holen lassen.« Er zeigt auf zwei Sanitäter, die gerade vor dem Stollen absetzen. In einer Zeltbahn, die an einem Tragknüppel befestigt ist, liegt er, der Ärmste und brüllt fürchterlich.

»Was hat er?«, fragt Leutnant Mohr.
»Bauchschuss!«, ist die Antwort.
»Wer ist es?«, erkundigt sich Hansen.
»Gefreiter Müller«, antwortet Leutnant Mohr, »einer unserer Besten. Habe die andern bereits nach vorn geschickt. Es war die höchste Zeit«, er zeigt nach Osten, wo der Himmel, sich schon aufhellt. »Sie bleiben mit zwei MG-Mannschaften hier in Reservestellung. Sobald ich sie brauche, kommen sie nach.«
»M. und Pfahl, MG am Bahnkörper übernehmen«, ruft Hansen in den Stollen hinein. Wir krabbeln hinaus. An halber Höhe des Bahndammes finden wir ein Loch, so groß, dass zwei Mann bequem darin Platz haben.
»Verdammt windige Bude«, meint Pfahl und kriecht hinein. Ich folge schnell, denn der Franzose trommelt wieder. In der äußersten Ecke finden wir gut verpackt zwei MG und die nötige Munition. Wir hocken uns hin und erwar-ten den hereinbrechenden Tag. Wie die Pest stinkt es um uns herum und zu uns herauf. Wir zünden uns eine Zigarette an.
»Ich bin neugierig, wie das hier ausgeht«, unterbreche ich das Schweigen.
»Ich auch«, antwortet Pfahl und bläst den Qualm stoßweise in die Luft, während seine Augen die Decke unserer Behausung absuchen. Zwei morsche Schwellen ruhen auf wahllos aufeinander geschichteten Steinen. Von oben scheint der Tag zu uns herein. Vor dem Eingang hängt der Mantel eines Unbekannten, über dessen Gebeine ich am Hang gestolpert bin.
»Viel kann uns der Vorhang nicht nützen«, meint Pfahl, indem er versucht, einen herabgefallenen Zipfel zu befestigen.
»Wieso?«, frage ich, »Zum mindesten hält er den Wind ab und vielleicht fängt sich sogar ein Granatsplitter darin. Lockeres Zeug hält jede Kugel auf, den Beweis haben wir doch erst gestern am Fortberge gehabt.«
»Stimmt, hast recht«, antwortet Pfahl, »Der Brocken ges-tern wäre mir beinahe ins Kreuz gegangen.«

Der Anmarschweg zu den vordersten Linien am 23.10.1916
Es ist Tag geworden. Das Feuer hat nachgelassen – nur der Fortberg dampft noch. Wir krabbeln heraus und sehen uns die Gegend an. Ein wüstes Trümmerfeld ringsumher. Wie Streichhölzer geknickt stechen die Schienen gen Himmel. Zwischen Schwellen und Gestein liegen sie – bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.
Ich berühre die Stiefel eines Verschütteten, sie kippen um. Ein Arm ragt unter Steinen hervor. Fetzen von Kleidungsstücken bedecken den Hang. Leichengeruch schlägt uns entgegen.
Ein Flieger rast über uns hinweg, kaum dreißig Meter hoch. Wir verschwinden schnell in unserer Höhle.
[...]
Wir knabbern trockenen Zwieback. Unter uns dröhnt die Erde, wenn ein Schwerer den Bahndamm getroffen hat. Meistens flutschen die Granaten eben über den Bahnkör-per hinweg und verschwinden als Blindgänger vor uns im schlammigen Grunde. Wenn es aber ein Treffer ist, dann spritzen Dreck und Splitter zu uns herauf. »Gaaas, Gaaas!«, ruft der Posten des Hauptstollens hinaus.
Wir sehen durch ein Loch in unserem Vorhang weiße Schwaden ziehen und stülpen schnell die Gasmasken über. Flupp, flupp – kommen die Gasgranaten über den Damm. Langsam kriecht das Gas auf dem Boden dahin und senkt sich hinab in den Stollen. Plötzlich ein Kopf vor unserem Loch. »Habt ihr noch Gasmasken übrig?«
Wir finden noch eine und geben sie ihm mit.

Die Nacht bricht herein. Wie Gespenster huschen Gestalten im Grunde vorüber. Kaffeeträger sind es, die wegen dünner Brühe ihr Leben aufs Spiel setzen. Kaffee oder Wasser, das ist gleich. »Durst, Durst!«, schreien alle. Auch uns klebt die Zunge am Gaumen. Pfahl hatte bereits am Tage versucht, mit dem Stahlhelm Wasser aus einem Granatloch zu schöpfen.
»Leichenwasser«, schimpfte er, als er die Nase darüber hielt und goss es weg.
Der Franzmann trommelt unaufhörlich. Es hagelt förmlich Geschosse. Leuchtkugeln steigen auf.
Da irren sie herum im Trichterfeld. Verwundete sind es, die ihren Schmerz hinausschreien in das Dunkel der Nacht. Sie hören und sehen nichts mehr, sie streben nur noch instinktiv dem Fort zu. Ob sie es wohl erreichen?
»Kameraaad! Kameraaad!«, gellt es von links durch die Nacht. Herzzerreißend. So kann nur ein Wahnsinniger schreien! Er kommt näher. »Kameraaad! Kameraaad!«, weint er.
Ich Iaufe zu ihm hinab und blicke in das Gesicht eines Irrsinnigen. Entsetzlich verzerrte Züge, von Blut und Dreck verklebt – der starre Blick. »Kameraaad!«, schreit er unentwegt. Ich schleppe ihn zum Stollen. »Hier kann keiner mehr rein«, stöhnt einer, der auf der obersten Schwelle sitzt.
»Dieser muss noch rein!« entgegne ich hart und schiebe ihn nach vorn. Er rutscht und bleibt wimmernd am Eingang liegen.
Ich stürze zurück – über stinkende Massen hinweg zu meinem Erdloch. Die Nacht ist zur Hölle geworden, wie dumpfer Trommelwirbel dröhnt das Vernichtungsfeuer herüber aus vorderster Stellung. Der Bahndamm erzittert unter den gewaltigen Explosionen. Verwundete stöhnen vorüber.
Wir spähen mit schmerzenden Augen hinaus, jeden Augenblick den Angriff erwartend, denn der Morgen graut.

1 Kommentar:

Unknown hat gesagt…

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