Samstag, 3. Januar 2015

2. Gefangenschaft: Märtyrerlager Souilly I

Infotafel am ehem. Lager in Souilly 2014
»Wo sind wir eigentlich?«, frage ich jemanden, der schon auf den Beinen ist.
»Straflager Souilly!«, antwortet er.
»Wieso denn Straflager?«, frage ich weiter.
»Na, weil wir von der Kronprinzenarmee sind!«
»Ah, so fassen die Franzosen den Krieg vor Verdun auf!«, denke ich und stelle mich auf meine eiskalten Füße.



Eine Stunde später stampfen wir alle im Morast auf und ab, denn es ist scheußliches Oktoberwetter.

Schub auf Schub rückt heran. Gewaltig muss der Erfolg der Franzosen gewesen sein. Man spricht von achttausend Mann!
Draußen gehen die Posten auf und ab. »Wasser! Wasser!«, schreien wir im Chor.
Es kommt kein Wasser.
Dann hat der Himmel ein Einsehen – es regnet! Wir fangen die Tropfen auf und feuchten unsere Lippen an.
Am Spätnachmittag kommen auch die Franzosen mit Wasser. In Fässern fahren sie es herbei und lassen es ab in einen Trog, der außerhalb des Zaunes steht.
Fürchterlich ist das Gedränge am Zaun. Mit der Mütze schöpfen wir und verschütten dabei die Hälfte.
Endlich habe ich mich auch soweit vorgearbeitet, dass ich Aussicht habe, einen Schluck zu erwischen. In der Hand halte ich bereits mein Zigarrenetui, eine ineinander schiebbare Lederhülle – dritter Preis im Männerturnverein meines Heimatortes, einschließlich Eichenkranz mit Schleife.
Neben mir steht ein Berliner, »Karlchen« nennen sie ihn.
»Mensch, tust mir mal die eene Hälfte pumpen? Mit det Krätzchen, det is nischt.«
Ich reiche sie ihm.
»Aber wiedergeben!«, sage ich.
»Ehrensache!«, antwortet er.
Langsam werden wir nach vorn geschoben.
Endlich sind wir dran. Mit gefülltem Zigarrenetui stehen wir dann im Schlick. »Mensch«, sagt Karlchen, »det war ne Tigerei heute, wat? Hab´ ick ´n Brand jehabt, det kann sich jarkeener vorschtellen! Wat de Leute Durscht nennen, is jarkeener. Weesste, der erste Schluck nach fünf Tagen, det hat jezischt! Ick war fertig, ick war ausjequetscht wie ´ne Zitrone.«
Er nimmt den letzten Schluck. »Schmeckt verdammt nach Tabak«, sagt er und gibt mir die Hülle zurück, »Weesste, die andern haben da heute früh aus so´n Dreckloch jesoffen. Kiek se Dir mal an! Die sitzen jetzt alle uff de Stange und haben de Scheisserei! Ick hab´ et jleich jesagt. Kinder, lasst det sin, hab´ ick jesagt. Hab ick recht jehabt?«
»Diesmal hast du wirklich recht gehabt«, sage ich, »Ich habe nämlich auch ´n Durchmarsch.«
»Siehste, hast ooch mitjesoffen vonde Lurchenbrühe und denn jleich zu ville. Ihr scheisst Euch noch doot, watt ick Dir sage!«
Die Franzosen bauen an jeder Ecke des Zaunes ein Maschinengewehr auf und probieren es aus.
Vor dem Eingang wird ein Scheinwerfer aufgestellt, der das ganze Feld überleuchten soll.
Es regnet.
In der Mitte des Feldes steht eine Lehmhütte. Sie bietet höchstens für hundert Mann Platz. Ich mache erst gar nicht den Versuch, hineinzukommen und patsche, wie alle anderen auf und ab durch den Dreck.
Endlos ist die Nacht, nass die Kleidung, kalt die Füße und leer der Magen. Ich winde mich vor Leibschmerzen.
Elend und dreckig sehen wir alle aus, hohläugig und blass.
Endlich bekommen wir hundert Gramm Brot, die Nahrung für den ganzen Tag. Unsere Landsleute bringen es uns von der anderen Seite der Strasse herüber. Sie erzählen uns:
»Souilly ist das Vergeltungslager für die Kronprinzenarmee. Auf den Kronprinzen haben sie alle eine Stinkewut. In einer illustrierten Zeitung haben sie ihn abgebildet, auf einem Haufen Menschenschädel stehend und mit dem Fernglas in der Hand. Darunter stand: »Ich kann Verdun noch nicht sehen!« – Als ob sich Joffre nicht genau so hinstellen könnte!«
»Ihr werdet noch was aushalten müssen. Hier ist schon manch einer draufgegangen«, meinen sie und ziehen dann ab mit ihren Körben.
Es wird Tag. Tief hängen die Wolken, ein eisiger Wind peitscht sie über das Feld.


Die ersten Fieberkranken schleppen sich an das Eingangstor. Gegen Abend werden sie fortgeschafft.
Ich zwänge mich vor Einbruch der Dunkelheit in die Lehmbude hinein und sichere mir in der Ecke einen Platz für die Nacht.
In der Mitte wogen die Stehenden hin und her. Bald wird das Gedränge unerträglich. Von beiden Seiten pressen sie sich mit Gewalt hinein.
Wir sitzen im Dreck, der eine zwischen den Beinen des anderen. Die Glieder schlafen uns ein.
»Au!«, schreit es aus allen Ecken.
Neben mir sitzt ein pfundiger Bayer, der gerade von seinem Faustrecht Gebrauch macht.
Pardauz – da kommt einer von oben aus dem Hahnebalken herunter, denn dort saßen die Schlauesten. Der Mensch ist aber kein Kanarienvogel und fällt daher herunter, wenn er einschläft.
Der Ärmste! Er schlug dem Bayer mit dem Absatz ins Ge-sicht und wurde nun regelrecht vertrimmt. Von allen Seiten bekam er Zunder, bis er vor der Türe lag.
Überall stöhnen und schimpfen sie, keiner nimmt Rücksicht.
Ich bin vollkommen festgekeilt und leide bereits seit einer Stunde Tantalusqualen, denn ich habe die Ruhr. Das wühlt und reißt und schmerzt und schneidet wie mit Messern.
Gegen Mitternacht bekomme ich wegen meiner angeblich krummen Knochen und weil es mir in die Hosen gegangen ist, Streit mit meinem Nachbarn. Mit Knuffen und Puffen befördert man mich hinaus.
»Warst du auch da drin?«, redet mich einer an, der schon länger im Regen steht.
»Bis jetzt«, antworte ich.
»Dann hast du es aber lange ausgehalten. Das nennt sich nun Kameradschaft! Anstatt dass sie sich alle Stunde mal ablösen, hocken die, die die größte Schnauze haben, die ganze Nacht da drin.«
»Da fehlt bloß der richtige Mann, der Ordnung schafft«, antworte ich, »Wo kein Kommando ist, da machen die Menschen, was sie wollen und Ungerechtigkeit ist Trumpf. Ich verzichte jedenfalls auf diesen Affenstall, stehe lieber hier draußen im Regen.«
Am anderen Morgen liegt eine Schar Fieberkranker vor dem Eingangstor. Die Latrine, eine fünf Meter lange Grube ist dauernd besetzt. Epidemisch greift die Ruhr um sich. Mehr als hundert Mann werden an diesem Tage fortgeschafft.
Ich halte mich noch, trotzdem ich heftiges Darmbluten habe und dauernd an der Grube sitze. »Hast du das heute Nacht gehört?«, fragt mich einer, der neben mir hockt, »Der lange Posten hat zwei Mann erschossen. Er behauptet, sie wollten türmen und dabei haben sie sich bloß Wasser durch den Zaun langen wollen!«
»Eine Gemeinheit!«, antworte ich.
Eiter und Blut kleben an den Wänden der Grube.
»Schließlich ist es gleich, ob man so oder so drauf geht«, denke ich.

Gestern hat man bereits mit dem Verhör vor der französischen Kommission begonnen.
Heute bin ich dran.
Zunächst nimmt man uns sämtliche Gegenstände wie Messer, Schere usw. ab.
»Auf Briefschaften sind sie besonders scharf«, sagt man mir. Ich zerreisse sie deshalb vorher und trete sie in den Schlamm.
Man will von mir wissen, wo ich in Stellung gelegen habe, wie stark die deutschen Reserven dort gewesen sind, wo die Artillerie gestanden hat usw. Ich weiche geschickt aus und beantworte die meisten Fragen mit Achselzucken.
Ärgerlich wendet sich schließlich der Nachrichtenoffizier ab.
»Noch ein Kind«, sagt er und lässt mich abführen.
Alle kommen nicht so gut davon. Diejenigen, welche nach Meinung der Franzosen wirklich etwas aussagen können und es nicht tun, liegen draußen auf einem Holzrost angeschnallt und starren in den Himmel. Man will sie auf diese Weise gefügig machen.
»Otto Seidel, Mensch, du auch?«, entfährt es meinen Lippen, als ich den Zweiten in der Reihe im Vorbeigehen erkenne. Ein bitteres Lächeln huscht über sein blasses Gesicht, als auch er mich erkennt.
»Von mir bringen sie kein Wort mehr heraus und wenn ich hier verrecke!«, stöhnt er laut hervor.
»Allez, allez, hier gibt es nichts zu erzählen«, fährt mich der Franzmann an.
»Halte durch, Junge!«, rufe ich ihm noch zu.
»Allez, allez!«, schnauzt der Posten und gibt mir einen Fußtritt.

[9. Abschnitt: Nach der Schlacht
3) Ich hatte das Unglück, in feindliche Kriegsgefangenschaft zu geraten:

Wenn ich Zeit und Gelegenheit habe, entferne ich meine die Regimentsnummer enthaltenen Schulterklappen und den Helmüberzug und werfe sie weg; wenn ich Schriftstücke bei mir habe, aus welchen der Feind etwas über unsere Zusammensetzung, unseren Gefechtsauftrag, unsere Unterkunft entnehmen kann, so vernichte ich sie;
wenn ich über unsere Verhältnisse ausgefragt werde, so gebe ich entweder gar keine oder eine den Feind irreführende Antwort; wo ich Zeit und Gelegenheit finde, suche ich zu entfliehen und mich zu den Unsrigen durchzuschlagen oder mit List dahin zu kommen;
im übrigen benehme ich mich auch in Gefangenschaft so, daß ich meinen guten Ruf als bayerischer, als deutscher Soldat bewahre, insbesondere muß ich meinen mitgefangenen Vorgesetzten die Ehrenbezeugungen so erweisen, wie zu Hause in der Garnison.]

Quelle: Hptm. Zeiß, Unterrichtsbuch für den bayerischen Infanteristen und Jäger, Regensburg 1902, S. 216


Heute gibt es eine Kelle Kaffee, soweit es reicht und eine Dose Gefrierfleisch für fünf Mann. Eine Dose Fleisch von hundert Gramm – welch ein Leckerbissen! Aber wie macht man die Büchse auf? Alle scharfen Gegenstände sind uns genommen. Mit Steinen, die wir aus dem Schlamm herausfischen, gehen wir dabei. Unser Mann, dem wir ängstlich wie die Trabanten folgen, braucht eine halbe Stunde dazu, bis er sich einen Stein erbettelt hat.
Und dann erst die Teilung!
Der Regen wird immer schlimmer. Nässe, Kälte und Hunger fordern täglich ihre Opfer.
Endlich bequemen sich die Franzosen, ein Dutzend Dreieckzelte von Mannshöhe aufzubauen.
Der Sturm reißt sie nachts in den Schlamm.
Ich versuche, mich mit meinem Koppel an einem Zeltpfahl festzuschnallen, denn der Schlamm draußen ist zur dünnen Suppe geworden und ich habe seit drei Tagen kein Auge zugetan. Bald sacke ich aber zusammen und reiße fast das Zelt ein.
Auf einem Zipfel des Zeltes hockend, schlafe ich dann durchnässt bis auf die Haut gegen Morgen ein.
Plötzlich schlägt mich jemand mit einem Knüppel über den Schädel, dass ich ohnmächtig werde. Ein französischer Sergeant ist es, der im Lager herumtobt und die Leute verprügelt, weil der Sturm die Zelte umgerissen hat.
Schrecklich sind wir durch Hunger, Nässe und Kälte bereits zugerichtet. Wie die Schweine sehen wir aus. Täglich fallen die Schwächsten um und werden fortgeschafft.

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