Sonntag, 4. Januar 2015

1. An der Front: Gefangennahme - II

»Allez, en avant!«, ertönt das Kommando. Langsam und von manchem Seufzer begleitet, setzen sich die müden, zerschundenen Knochen in Bewegung. Gespenstisch be-wegt sich der Zug durch die Nacht. Schlürfend ziehen wir die schmerzenden Füße nach. Unser abgestumpfter Blick hängt an den Fersen des Vordermannes. Alles ist uns gleich, wir sind abgekämpft.
Jeder Schritt ins fremde Land hinein ist ein Stück von unserem Herzen. Mühsam schleppen wir uns auf grundlosen Feldwegen vorwärts, kein Wort kommt über unsere Lippen. Nur die Franzosen reden und schimpfen. Aufgeregt und zappelig wie Schäferhunde pendeln sie an unserer Seite.
Jetzt habe ich einen ganz Schlimmen neben mir.
»A droit – nach rechts!«, schreit er mich an und gibt mir einen Stoss, dass ich an meinem Nebenmann Halt suchen muss.
»Nach rechts habe ich gesagt, du dreckiges Schwein!«, schimpft er weiter auf französisch und rempelt den Nächsten an.
»Ich kann nichts verstehen«, sagt der ärgerlich.
»Ah, nix verstehen, nix verstehen!«, zappelt er vor ihm herum, »Fressen und Köpfe abschneiden, das könnt ihr – aber keine Ordnung halten, ihr Drecksäcke! Werden Euch noch Ordnung beibringen!«
»Sales boches, sales cochons!«, führen sie alle im Munde. Hart ist ihre Sprache und barsch ihr Ton. Hass spricht aus jedem Wort. Sie wissen nicht, dass man wehrlose Menschen, die ihre Pflicht taten, achten soll.
Wir verzeihen ihnen, denn sie müssen um unsereswillen durch die Nacht marschieren. Im Zorn ist der Mensch leicht ungerecht.
Heiß sind die Glieder und trocken der Gaumen, uns alle quält der Durst.
»Hast du keinen Schluck Wasser?«, stöhnt mein Nebenmann.
»Schmachte selbst danach!«, bringe ich mit angestrengter Stimme heraus.
Jetzt endlich fasst unser Fuß Pflaster. Wir marschieren auf dem Hauptzubringer von Verdun.
Endlose Ketten von Munitions- und Fourage-Transporten rattern an uns vorüber.
»A droit!«, tönt es monoton den Zug entlang.
Mein Fuß schmerzt immer heftiger. Der Durst wird unerträglich. Ich hänge die Zunge heraus, wie ein lechzender Hund, weil ich mir einbilde, die Feuchtigkeit der Luft so besser einfangen zu können. Seit 48 Stunden habe ich nichts getrunken.
In der Ferne zeichnen sich die Lichter der Stadt Verdun am Himmel ab. Dahin wollen sie uns also bringen.
Ich schätze drei Kilometer. »Das werde ich noch schaffen. Nur nicht liegenbleiben!«, denke ich, »Hier sind wir noch im Operationsgebiet, wer fragt danach, wenn man mich für immer liegen lässt?«
Noch einmal hören wir den Einschlag deutscher Granaten, dann stehen wir vor den Toren von Verdun. Es ist neun Uhr abends. Ein altes Stadttor nimmt uns auf. Nur stellenweise sind die Häuser erhalten.

Die Tore von Verdun (Foto eines US Soldaten v. Ausgang des
franz. Offiziercasinos aus aufgenommen, 1917)
Überall sieht man die verheerende Wirkung unserer schweren Artillerie, kahl und schwarz ragen die Brandmauern aus den Trümmern hervor. Im Schutt schwelt das Feuer.
»Halte la!«, heißt es am anderen Ende der Stadt.
Gott sei Dank, wir sind da! Wohl keiner, der nicht im nächsten Augenblick an der Erde liegt. Wo, das ist gleich! »Wasser, Wasser!«, geht ein Raunen durch die Menge. Irgendwo musste man Wasser entdeckt haben.

In der Tat – weiter vorn steht ein Dorfbrunnen.
Aber nur wenigen ist es möglich, eine Handvoll zu schöpfen, denn die Franzosen schlagen mit dem Kolben dazwischen und treiben sie in Reih und Glied.
Ich versuche, meinen Stiefel auszuziehen. Es gelingt mir nicht, denn der Fuß ist geschwollen.
Vor mir steht einer auf Strümpfen, er hatte die Stiefel bei der Gefangennahme stecken lassen.
»Hast du keine Fußlappen, Kamerad?«, fragt er.
»Leider nicht!«, gebe ich zur Antwort.
Er wendet sich an den Nächsten und bettelt sich so Lappen zusammen, die er um seine wunden Füße wickeln kann.
»Allez, allez!«, ertönt es von allen Seiten. Man treibt uns zusammen. Pferdehufe poltern auf hartem Pflaster. Die Kavallerie säumt uns ein.
Will man uns noch weiterschaffen? In der Tat!
»Allez, en avant!«, ertönt das Kommando.
Pferde tänzeln an unserer Seite, Lanzen blitzen über unseren Häuptern. Mit verschärftem Tempo treibt man uns wieder in die dunkle Nacht hinaus.
Endlos ist der Weg und eintönig die Landstrasse. Der letzte Schweiß klebt auf meiner Stirn. Schwer sind die Glieder und schlapp die Sehnen. Es geht nicht mehr. Ich kann die Beine nur noch nach vorn bringen, indem ich die Hüften anhebe durch Biegen des Körpers von links nach rechts.
Der Erste bricht zusammen, mitten auf der Landstrasse. Wir müssen um ihn herum gehen, keiner ist im stande, ihm zu helfen.
Was sie wohl mit ihm machen werden? Verzweifelnd beiße ich auf meine trockenen Lippen.
Es muss noch gehen. Ich darf mich nicht aufgeben!
Wieder bleibt einer liegen. Angstvoll und gequält stöhnt er im Graben abseits. Ein Posten bleibt bei ihm, der andere soll schon wieder zurück sein.
Man flüstert etwas von »kalt gemacht«. Ich kann es kaum glauben, sollte es wirklich Soldaten geben, die in uns nicht den Gefangenen, sondern nur immer den Feind sehen, den sie ungestraft beseitigen können?
Nur nicht liegen bleiben, nein, nur nicht liegen bleiben!
Körper gibt seine letzten Reserven her! Du hast sie noch, ich weiß es, nur jetzt nicht geizen!
Fest pressen sich die trockenen Lippen aufeinander.
[...]In der Ferne sucht ein Scheinwerfer den Himmel ab.
Dahin müssen wir sicher noch!
Enttäuschung und letzte Hoffnung zugleich!
Es ist drei Uhr in der Frühe. Wir sind mit einer Unterbrechung in Verdun bereits neun Stunden unterwegs und waren doch schon zermürbt, als man uns gefangen nahm.
Was doch ein Körper zu leisten vermag, wenn ein eiserner Wille und ein letztes »Muss« dahinter stehen!
Der Tag graut! Ich schleppe mich mit letzter Kraft weiter.
Wir passieren ein Dorf und stehen plötzlich vor einem eingezäunten Feld.
Am Ziel! Gott sei Dank!

Das Kriegsgefangenlager heute: ein Maisfeld, 2014
Die Kavallerie rückt ab. Bajonette blitzen wieder auf. Man zählt uns und zehn Minuten später stehen wir hinter dem Stacheldraht auf grundlosem, aufgeweichtem Ackerboden.
Wohl keiner, der nicht dort zusammenbricht, wo er gerade steht .
Ich schlafe wie ein Toter im Dreck, bis mich ein Schüttelfrost nach drei Stunden plötzlich empor fahren lässt.
Mein Fuß schmerzt mich. Ich versuche, den Stiefel auszuziehen. Es gelingt mir aber nicht.
»Aufschneiden!«, meint einer neben mir und fährt mit seinem Käsemesser hinein in das Loch, welches mir ein Granatsplitter gerissen hat.
»Junge, Junge, da hast du aber Schwein gehabt!«, sagt er und hält den Splitter in der Hand, ein scheußlich gezacktes Eisenstück. In der umgelegten Hose hatte er seine Durchschlagskraft verloren und nur eine Fleischwunde verursacht.
Ich werfe den blutgetränkten Fußlappen fort, reiße mir ein Stück vom Unterzeug herunter und fahre erleichtert hinein in den zerschnittenen Stiefel.

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