»Mensch, da sind wir ja dem Totengräber noch mal von der Schippe gehuppt!«, sage ich befreit zu meinem Nebenmann. Er ist ein Unflat von Kerl, Füße wie Elbkähne und Hände wie ein Olympiaschwimmer – ein richtiges Elefantenküken! »Hein« nennen sie ihn.
»Wenn he uns nich doch noch bi´n Kanthoken kriegt«, antwortet er.
»Dann sterben wir eben hier den Heldentod!«, gebe ich zurück.
»Ped Di man nich op´n Slips!« platzt er heraus, »dat givt tweerlei: Auf dem Felde der Ehre gefallen und in Gefangenschaft gestorben!«
»Das ist gleich, fürs Vaterland geschieht beides und darauf kommt es an!«
»Ick bün jedenfalls froh, dat wi den ganzen Schiet achter uns hebt. Ick kann allerhand af, aber wat to veel is, is to veel! De Franzosen, düsse Schietkerls, wörn all längs afkratzt. Kiek se Di mol an! Is keen een, de en Mors in de Büx hett. De sülln wi uns griepen, jeder een un en por ant Mul haun!«ii
»Aber ohne mich!«, antworte ich und hole mir ein Stück Trocken Brot hervor, welches wir als Tagesration mitbekommen haben.
Maisbrot ist es, sieht gelblich aus und schmeckt etwas bitter. Essen steckt an – alle holen sie ihren Knust hervor. Hinterher wird weiter Kohldampf geschoben.
Geringschätzig wiegt Hein seinen Kanten in der Hand: »Da hebt wi to huus de Fisch mit foddert, is man grod wat forn hohln Taen!«
Grauer Dunst liegt über der Landschaft, ungepflegtes, überwuchertes Ackerland zu beiden Seiten.
Wir wissen nicht, geht es weiter ins Land hinein oder zurück an die Front?
»Hest du dat heurt? Hier rükt dat wer no Pulwer«iv, sagt Hein nach fünf Stunden Marsch.
Ich horche – tatsächlich, Kanonendonner ganz aus der Ferne.
Zwei Stunden später sind wir am Ziel. Ein Drahtzaun auf bewaldeter Höhe nimmt uns auf.
Rrrrrach - rrrrach – die deutsche Artillerie schickt uns einige Zuckerhüte zum Gruß. Sie schlagen im Tal ein, wo die Güterzüge mit Munition stehen.
In einer demolierten Baracke werden wir untergebracht, wie gewiegt schlafe ich in meiner Flohkiste, obwohl der Wind durch die Fugen pfeift und die Hüften schmerzen.
Am anderen Tage stehen wir bereits unten im Steinbruch und hören fortgesetzt die Mahnung: »Allez, allez, travailler! – Los, los, arbeiten!«
Der Kommandant, ein spitzbärtiger, alter Knabe, läuft mit seiner Ordonnanz raisonnierend durch die Reihen, als ob er für jede Lore Steine zehn Francs Tantieme bekäme.
Mir hat man eine Brille und einen kleinen Hammer verpasst. Tagaus, tagein sitze ich auf meinem Steinhaufen und klopfe Schotter, ob es regnet oder schneit. »Toujours travailler – Immer arbeiten!«, belehrt mich mein Posten, der in einem Regencape auf und ab pendelt, während mir das Wasser aus der Hose läuft.
»Allez, allez!«, schimpft er, wenn ich eine Kunstpause einlege.
Eine Arbeit geht nur von der Hand, wenn man sie mit innerer Bereitschaft anpackt und mit Lust und Liebe verrichtet. Sonst werden die Stunden zur Ewigkeit und der Tag zur Qual. Abwechslung bringt nur der Weg zur Latrine. Unser Standpunkt ist: »Lieber den Hintern erkälten, als arbeiten!«
Wenn wir vor der Grube sitzen und Parolen herausgeben, während wir uns die Läuse aus dem Hemd suchen, geht die Zeit noch einmal so schnell herum.
Läuse haben wir trotz Entlausung schon wieder im Überfluss. Sechzig zähle ich in einem Ärmel. Auf der Brust beißen sie am schlimmsten und dabei finde ich keine. Endlich habe ich das Hauptquartier entdeckt. Im Brustbeutel sitzen sie in allen Größen und Schattierungen von der Großmutter herunter bis zum Enkelkind. Es ist kein Wunder. Nur einmal in der Woche, am Sonntag, werden wir an den Fluss geführt, um uns zu waschen. In der Woche kommt kein Wasser auf den Berg, außer für den Wasserreis, den wir jeden Tag zweimal bekommen.
[...]
Wir hungern und frieren und müssen schwer arbeiten. Nachts liegen wir auf muffigem Stroh.
Pfützen stehen in der Baracke, denn das Dach ist undicht. Vorn am Eingang schwelt eine Tranfunzel. Wie das liebe Vieh liegen wir im Mist und schnarchen oder schaben uns. Dauernd torkeln Gestalten schlaftrunken durch den Gang zum Kübel, der in der Ecke steht.
Neben mir liegt Karlchen, er hat seit drei Wochen wieder die Ruhr. Aschgrau ist sein Gesicht, blauschwarze Schatten liegen um seine müden Augen.
Anfangs ist er die ganze Nacht zur Latrine gelaufen, später hielten ihn Übermüdung und Schwäche zu lange auf seinem Lager fast, sodass es ihm oft daneben ging. Nun liegt er schon seit Tagen teilnahmslos da. Seine Hose starrt von Schleim und Blut, er stinkt wie die Pest und wimmert vor Schmerzen. Das Fieber zehrt an seinem ausgehungerten Körper.
Seit gestern spricht er kein Wort mehr. Man schafft ihn endlich fort – zu spät, seine Lippen öffnen sich nicht wieder.
»Wenn das so weiter geht, können wir uns alle zu Hause abmelden«, meint Hein kopfschüttelnd.
Gierig schlürfen wir unsere Wassersuppe, um unseren durchgefrorenen Körper aufzuwärmen. Allmählich sind die Reserven aufgebraucht und der Hunger klopft unerbittlich an die Magenwände.
Jeder will morgens beim Antreten rechter oder linker Flügelmann sein.
Auf dem Wege zum Steinbruch suchen unsere Augen jeden Komposthaufen ab.
Hier haben nachts die Lastautos gehalten. Was die Chauffeure nicht mehr mochten, werfen sie in den Dreck. Für uns sind das Leckereien. Oftmals stürzt ein ganzes Rudel aus den Reihen, um einen trockenen Knust zu erhaschen. Die Franzosen amüsieren sich darüber und nennen uns »gefräßige Boches«.
[...]Seit gestern arbeite ich mit Hein zusammen, er lädt auf und ich muss die Karre schieben. Es regnet unentwegt. Das Wasser läuft mir in die Stiefel hinein, die ich hinten aufschneiden musste, weil mir die Fersen erfroren sind.
Wir lösen uns ab. Aber da kommt auch schon der Aufseher und verbietet es.
»Ich kann nicht mehr laufen«, sage ich. Auf meine Füße zeigend, mache ich ihm begreiflich, dass ich erfrorene Fersen habe.
»ça fait rien – Das macht nichts!«, antwortet er ärgerlich.
»Allez, travailler ou prison – Los, arbeiten oder ins Gefängnis!«, setzt er hinzu. Und von nun an setzt er bei jeder Fuhre mit seinem Krückstock hinter mir her.
Ich beisse die Zähne aufeinander und halte durch bis Feierabend.
Tags darauf melde ich mich krank. Ein Sanitäter kommt mit seinem Kampfertopf. Er sticht mit einer Nadel die Füße ab, bis ich schreie und stellt dann fest: »Arbeitsfähig!«
Ich muss vor den Kommandanten.
»Warum willst du nicht arbeiten?«, fragt er in barschem Ton.
»Weil ich schwarze Füße habe, ohne jedes Gefühl«, antworte ich.
»Um so besser!«, platzt er heraus, »Ohne Gefühl, dann kannst du sehr gut exerzieren!«
»Posten!«, schreit er zum Fenster hinaus.
Der kommt und schleift mich auf den Hof.
Ich muss in Ermangelung eines Sandsackes einen Balken im Kreise herumtragen. Immer wieder setze ich ab, immer wieder schreit der Franzmann, der mit aufgepflanztem Seitengewehr in der Mitte des Platzes steht, sein: »Allez, allez!«
Nach zwei Stunden breche ich erschöpft zusammen.
»Ich kann nicht mehr!«, stöhne ich.
»Je suis malade! – Ich bin krank «, sage ich auf Französisch.
»Oh, nix malade!«, zappelt er vor mir herum und tritt mich solange gegen die Fersen, bis ich wieder stehe.
Jetzt geht es ohne Balken weiter, bis die anderen heimkommen. Ich werde vor den Kommandanten geführt. »Willst du jetzt arbeiten?«, fragt er mich.
Ich sehe ihn flehend an.
Seine stechenden, schwarzen Augen wittern aber in mir immer noch den Drückeberger.
»Ob du arbeiten willst, habe ich gefragt!«, wiederholt er hart und bestimmt.
»Ja!« antworte ich.
»Na also, werden Euch schon kriegen!«
Ich schneide am nächsten Tage meine Schäfte ab und mache Pantoffeln aus meinen Stiefeln. So schiebe ich meine Karre tagaus, tagein durch den Dreck und laufe mehr barfuß, als auf Pantoffeln.
Der Exerzierplatz wird immer besuchter. Wer sich krank meldet, wird eine Stunde weit zum Arzt geführt und dort nach Behandlung mit Jod und Aspirin mit tödlicher Sicherheit gesund geschrieben.
Es ist, als ob die Franzosen sich mit Gewaltmitteln gegen ein vermeintliches Drückebergertum schützen wollten. Damit treiben sie die Krankheit des einzelnen auf die Spitze und manch einer muss es mit dem Leben bezahlen.
[...]
Es ist Heiligabend! Ich liege auf der Erde auf fauligem Stroh und starre in das Halbdunkel des Raumes hinein. Meine Gedanken sind daheim.
Ob sie wohl in diesem Jahre einen Baum haben? Ob sie überhaupt schon wissen, dass ich in Gefangenschaft geraten bin? Vielleicht leben sie immer noch in der quälenden Ungewissheit über mein Schicksal. Vielleicht trauern sie sogar um mich. Still ist es in der Baracke – alle denken sie an die Heimat!
Die Franzosen kennen kein Weihnachten mit Tannenbaum und Lichterglanz und können deshalb auch nicht ermessen, was uns in diesen Stunden fehlt.
[1917]
Das neue Jahr beginnt mit grimmiger Kälte. Wir haben einige schwerkranke und etwa dreißig Mann ohne Schuhzeug. Die Franzosen sehen endlich ein, dass man hier mit Jod, Kampfer und Nadelstichen nicht weiter kommt.
Mit strenger Miene schreitet der Kommandant die Front ab. Er lässt die Schwächsten auf die andere Seite treten. Was nichts mehr taugt, will er abschieben, auch ich bin dabei.
Eine Stunde später zieht ein Häuflein Kranker hinaus in den kalten Wintertag, verfolgt von den sehnsüchtigen Blicken der zurückbleibenden Kameraden. Mochte der Weg auch unbekannt und noch so beschwerlich sein, die Hoffnung auf ein besseres Los gibt allen noch einmal neue Kraft.
Hein hatte mir beim Abschied bewegt die Hand gedrückt. »T´jüs, lot Di dat good gon«, hatte er gesagt.
Ich habe die Füße vollends erfroren und bin außerdem schwer ruhrkrank. Soll ich deshalb zurückbleiben? Niemals! Lieber auf der Landstraße umfallen, aber nur weg, weit hinweg von dieser Elendsstätte!
Eisig fährt der Wind durch unsere dürftige Kleidung.
Nach einer halben Stunde muss ich als erster in den Graben. Ich habe heftige Leibkrämpfe. Der Posten treibt – er will nicht warten.
Bald sind es ein Dutzend, die zurück bleiben. Die Posten halten Wache, während wir frierend am Wegrand sitzen und dennoch nicht verhindern können, dass uns Blut und Schleim in die Kleidung fließen.
Ich muss mitten in einer größeren Ortschaft in den Rinnstein, während mich die Bewohner begaffen und belachen.
Die anderen sind schon am Ziel! Erschöpft und enttäuscht betrete ich das Lager Souilly wieder, diesmal aber nur für kurze Zeit.
ENDE DER LESEPROBE
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