Samstag, 10. Januar 2015

Einleitung

Grundlage für die Behandlung der Kriegsgefangenen war die 1907 ratifizierte Haager Landkriegsordnung, nach der Gefangene mit Menschlichkeit und »in Beziehung auf Nahrung, Unterkunft und Kleidung auf demselben Fuße zu behandeln [seien] wie die Truppen der Regierung, die sie gefangengenommen hat.«
Bereits im ersten Kriegswinter 1914/15 kam es in mehreren Ländern zu einem Massensterben unter den Inhaftierten, denn schnell waren die Behörden mit der großen Zahl an Kriegsgefangenen überfordert – hatte doch kaum jemand damit gerechnet, dass sich der Krieg in das nächste Jahr erstrecken würde.

Bei den aktuellen Veröffentlichungen zum Ersten Weltkrieg kann man über dieses Themenfeld kaum Substantielles erfahren. Obwohl Kriegsgefangenschaft im Europa des Ersten Weltkrieges ein »Massenphänomen« mit etwa acht bis neun Millionen betroffenen Menschen gewesen ist, sind diese zu »Vergessenen sowohl der Erinnerung als auch der Geschichtsschreibung« geworden [Oltmer].
Das war während des Krieges und in der direkten Folgezeit ganz anders: leidenschaftlich wurde insbesondere zwischen der deutschen und der französischen Seite über die Regeln der Kriegsgefangenschaft und später um die Freilassung der Kriegsgefangenen gestritten. Neutrale Staaten und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) vermittelten wiederholt Verhandlungen zwischen den Parteien – doch Repression verstanden beide Kriegsparteien als legitimes Mittel, die eigenen Interessen durchzusetzen. So wurden Kriegsgefangene in Frontnähe eingesetzt, um den Gegner dazu zu nötigen, genau diese Praxis zu unterlassen. Gleiches galt für die Herabsetzung von Nahrungsmittelrationen oder auch das Vorenthalten von Post aus der Heimat. Diese geplanten Maßnahmen, wie auch die individuelle Misshandlung von Gefangenen, trieben die »Spirale der Gewalt« insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland immer wieder an [Oltmer].
Buchtitel, wie die deutschen Beispiele »Kurzer Kampf und lange Leiden - Erlebnisse in französischer Gefangenschaft« (Franz Stapf, 1917) oder auch »Wir weißen Sklaven: meine Erlebnisse in dreijähriger Gefangenschaft« (Hellmuth Korth, 1920), lassen die Gesinnung erahnen, mit der sie geschrieben worden sind.
Mehnerts Roman folgt nicht dieser Linie. Er ist weder anti-französisch, noch revanchistisch und widerspricht dem allgemeinen Zeitgeist am Vorabend des Zweiten Weltkrieges.
Seiner christlichen, humanistischen Grundüberzeugung folgend, begann der Autor bereits während seiner Gefangenschaft mit den Notizen für eine Veröffentlichung, jedoch »nicht, um erneut Hass zu säen, sondern um ein Beispiel zu geben, wie man es in Zukunft nicht mehr machen soll«.


Mehnerts autobiografischer Roman lässt erkennen, warum der »Große Krieg« der erste Konflikt gewesen ist, der »die Idee der Menschlichkeit an sich bedroht« hat, wie es Frankreichs Präsident Sarkozy am 11. November 2008 feststellte, als er an der Gedenkstätte der Verdunschlacht, dem Beinhaus von Douaumont, zusammen mit Vertretern des vereinten Europas an das Ende des Ersten Weltkrieges erinnerte. Dies geschah etwa 300 Meter von der Stelle entfernt, an der auch Otto Mehnert in Gefangenschaft geriet.

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