Donnerstag, 8. Januar 2015

1. An der Front: Kampf um den Douaumont - I

[22. Oktober 1916
„Halberstädter Lager“/ bei Azannes,
ca. 12 km vor Fort Douaumont]



Helm ab zum Gebet!

Tiefes Schweigen liegt über der Kompanie [ca. 100 Mann], die auf fremder Erde zum Feldgottesdienst angetreten ist.
Ein jeder sammelt sich noch einmal in der Erinnerung an die Heimat, für die er in wenigen Stunden im Kampf um Douaumont sein Leben einsetzen wird.
Aus rauen, ungeübten Männerkehlen dringt ein Choral hinaus in den Äther. Der kalte Herbstwind nimmt uns die Worte von den Lippen und trägt sie über ödes Etappengelände hinweg zu den jenseitigen Höhen. Wie dumpfer Trommelwirbel antworten aus der Ferne die Geschütze, welche der Feind für die Generaloffensive eingesetzt hat. Ihr tiefes Grollen ersetzt die Orgel in diesem weiten Dom der Andacht.
Wir rücken ab in die Quartiere über unwegsames Gelände, das der Dauerregen in den letzten Tagen aufgeweicht hat. Selbst die Laufstege zwischen den Baracken sind stellenweise verschwunden – im Schlamm versunken.
Schnell werden die letzten Vorbereitungen getroffen, Eiserne Rationen empfangen, gepackt was notwendig oder lieb und wert ist, und manch kleiner Talisman wandert heimlich an seinen alten Platz, manch lieber Brief in die Brusttasche.
Das Signal zum Antreten ertönt. Die Kompanie steht. »Mit Gruppen rechts schwenkt, ohne Tritt  – Marsch!«
Der Tornister drückt, das Koppel zieht nach unten, der Marsch beginnt – der Marsch ins Ungewisse!

Es ist nachmittags drei Uhr – wir schreiben den 22. Oktober 1916. Noch einmal bricht die Sonne durch. Herbstliche Stimmung liegt über der Landschaft, die uns im Verlauf der Zeit schon vertraut geworden ist. Feindesland ringsherum, vor uns die Front und im Rücken die Heimat für die wir kämpfen, für die wir – wenn es das Schicksal will – zu sterben bereit sind.
Monoton klingt der Marschschritt durch die Viererreihen. Es wird kaum gesprochen. Ein jeder sammelt sich für den bevorstehenden Kampf. Die Stunden vergehen. Wir befinden uns auf der Hauptstrasse von Azannes. Die Dämmerung bricht herein und ruft ein emsiges Leben und Treiben wach. Jetzt wird die Nacht zum Tag gemacht. Bevor der neue Tag anbricht, muss unendlich viel geschehen. [...]

Azannes 2014
Azannes ist erreicht. Ein Dorf, nur noch auf Abbruch zu verkaufen. Wir biegen rechts vom Wege ab und gehen querfeldein auf eine Waldecke zu. Noch sind der Weg und die nächste Umgebung zu erkennen. Hörbarer wird der Donner der Geschütze.
[...] Wir marschieren über blutgetränkte Erde. Hier hatten unsere tapferen Truppen im Februar den Widerstand des Feindes gebrochen. Mit einer Bravour sondergleichen hatten sie damals alles überrannt, was ihnen in den Weg kam. Wir gehen vorüber an den ehemaligen Stellungen, Gräben, Sappen, Unterständen, Drahtverhauen, genau so wie man es damals verlassen hatte.
Der letzte Schein des abendlichen Himmels lässt die schlichten Holzkreuze, die zu hunderten hier aufgestellt sind, wie Silhouetten am Horizont erscheinen. Hie und da leuchten uns die ausgeblichenen Knochen eines Pferdeskelettes an. Stätten des Grauens und Wahrzeichen schlichten Heldentums.
Mein Nebenmann schiebt mir ein Stück Papier zu, die Adresse seiner Eltern. »Wenn ich nicht zurückkommen sollte«, sagt er mit leicht erregter Stimme. Ich habe ihn, der mir in kurzer Zeit schon ein lieber Kamerad geworden ist, nicht wiedergesehen. Auch er ruht in fremder Erde unter einem der schlichten Holzkreuze.
Wir sind vom Res.I.R.27. [...]

Ornes - zerstörtes Dorf 2014
Vier Volltreffer gehen in das Dorf Ornes hinein, welches etwa 100m links von uns liegt. Die Pferde scheuen, sie rasen den Hang zu uns hinauf. Fuhjie zirrr, fuhjie zirrr – die zweite Batterie! Die Brocken fliegen uns um die Ohren. [...] Wir flüchten in den nächsten Graben.
Einige geringfügige Verwundungen hat es doch gegeben und einer unserer Jüngsten hat einen Nervenschock bekommen. Er zittert am ganzen Leibe und weint aus tiefster Seele vor sich hin – untröstlich. Ich versuche es in Güte, ich nenne ihn einen »Schlappschwanz« – er weint fortgesetzt und fährt zusammen, wenn eine Granate über uns hinweg heult oder in der Nähe krepiert.
Jetzt taucht Leutnant Mohr im Graben auf. Er überzeugt sich, ob alles da ist, schärft mir noch einmal ein, dass ich den Glycerinbehälter heil auf den Douaumont bringen muss, staucht den Jämmerling neben mir zusammen, nennt ihn einen Scheisskerl und verschwindet in der Sappe [Schützengraben ].
»Fertigmachen«, wird durchgegeben.
»Alles auf Tuchfühlung gehen!«
Langsam kriechen wir aus dem Graben heraus. Der Marsch beginnt. Stockfinster ist die Nacht. Die Sinne schärfen sich, angestrengt sucht das Auge den Weg. Leutnant Mohr führt. Es geht bergab im Kabelgraben der Brûles - Schlucht zu. In wenigen Minuten werden wir die Sperrfeuerlinie erreicht haben.
Fjuü - rrrach – dicht neben uns! Zirrrrr saust ein Splitter über uns hinweg. Unser Tempo wird lebhafter. Wir stolpern hinein in das Dunkel. Fjuu - rrrrach – fjuuu - rrrrach – wir sind mitten im Feuerbereich. »Verbindung halten«, gibt man durch. »Verbindung halten«, murmelt jeder nach. Irgendwo in der Ferne steigt eine Leuchtkugel auf. Fahles Licht enthüllt für Augenblicke die nächste Umgebung. Überall aufgewühltes Erdreich, entwurzelte Bäume, abgemähter Wald ein einziges Trichterfeld rechts und links. Wir biegen in die Brûles - Schlucht ein.

Eingang zur Brûle Schlucht 2014, der Weg führt nach links
Die Nacht ist zur Hölle geworden. Um uns schlagen die Granaten in dichter Folge ein. Ich verfolge mit geübtem Ohr jede einzelne, ihr Jaulen und ihren Einschlag. Fuhjiebamm – das war zu kurz. Wie ein Knäuel fliegen vier Mann durcheinander. Ich bekomme einen dumpfen Schlag an den Kopf, Funken sprühen vor meinen Augen – es wird Nacht um mich. Ganz von ferne vernehme ich Stimmen. Unter mir bewegt sich etwas. »Verflucht noch mal!«, höre ich. Ich bin wieder wach. [...]
»Weiter, weiter, Verbindung halten, vorwärts!«, ruft man hinter uns.
»Blödsinn bei dem Feuer!«, stöhnt einer hinter mir, der aufgerückt war. Herzzerreißend wimmert ein Verwundeter am Wege. Ein Sanitäter ist bei ihm, die anderen stürzen vorüber. Wieder einer, der liegen bleibt – noch einer.
Brûle Schlucht 2014
Wie ein gehetztes Wild stürze ich vorwärts, jeden Augenblick das tödliche Eisen erwartend. Rrrrrach – 20m vor mir. »Das hat Tote gegeben«, denke ich und raffe mich wieder auf.
Der Zug steht plötzlich. Unheimlich jeder Augenblick des Wartens in diesem Feuer. »Was ist denn los?« Wir geben die Lage nach vorn weiter. »Verbindung abgerissen!«, kommt es zurück. Unaufhaltsam schiebt man von hinten nach. Die Ersten treibt es ins Ungewisse hinein. Feldwebel Quedenfeldt hat die Führung übernommen; er trifft Pioniere, die wissen wollen, wo das Feuer nicht so stark ist. Wir sind am Fortberg [Berg des Fort Douaumont] angekommen. Jetzt heißt es hinauf, so schnell das eben möglich ist. Ich bin in Schweiß gebadet. Die Kräfte lassen nach – ich merke das, ich stehe nicht mehr so fest. Soll ich liegen bleiben? Soll ich laut in die Nacht hinausschreien, was meine Seele quält. Ist das nicht alles Wahnsinn ringsherum? Sind die Menschen verrückt geworden? Wozu dieses Schlachten und Morden?
Ich weiß nicht mehr, was ich tue, ich hetze nur vorwärts, stolpere, falle, raffe mich wieder auf und folge wie betäubt meinem Vordermann. Bis über die Knie versinke ich im Schlamm eines Granatloches. Der Stiefel bleibt stecken – ich erwische die Strippe.
Übermenschlich ist die Anstrengung, herauszukommen. Ich bin eben schon zu schwach. Mein Vordermann verschwindet im Dunkel der Nacht. Wo bleiben die anderen? Ich schreie: »Kamerad!« – schreie und schreie, doch niemand hört mich mehr. Ich taumele im Trichterfeld umher. Mehr instinktiv, als bewusst findet sich mein Fuß auf den Rändern der Granatlöcher zurecht. Da, rechts ein Wasserspiegel – zwei Gestalten sitzen bis über die Brust darin. Ich rufe, ich schreie mit ganzem Stimmaufwand: »Kameraden!« – keine Antwort!
Rrrach, rrrach – rechts und links von mir. Ich kann mich nicht mehr hinwerfen, um vor Splittern geschützt zu sein. Rrrrrach – dicht hinter mir! Der Luftdruck wirft mich in einen Trichter hinein – ich gebe auf. Es ist zu Ende mit mir. Zehn Minuten früher oder später tot, mir ist es gleich! Hier komme ich doch nicht wieder heraus! Der Berg erbebt, ringsherum streut die leichte Feldartillerie, der Kegel selbst wird mit 40cm Geschossen bepflastert.

Der Graben am Haupteingang in nördliche Richtung 2014
Ich liege im Schlamm. Leises Summen, wie das eines Fliegers dringt an mein Ohr. Sonderbar – das musste doch das Fort sein! Ob ich es noch einmal versuche? Ich musste es ja, wollte ich hier nicht umkommen! Auf allen Vieren arbeite ich mich heraus, die Füße wollen mich nicht mehr tragen. Ich balanciere auf den Trichterkanten herum, rutsche aus, arbeite mich wieder heraus. Der Schweiß läuft mir in Bächen den Körper herunter, das Herz schlägt mit letzter Kraft. Granaten zischen über mich hinweg. Rrrrach – ein ganz Großer bringt mich wieder aus dem Gleichgewicht. Ich stürze drei, vier, fünf Meter hinab, schlage hart auf und werde ohnmächtig wie ein Lappen nach vorn gerissen – ins Licht, ins Fort hinein!

Verschwommen tanzen Gestalten vor meinen Augen, ich höre Stimmen. Dann wird es Nacht um mich, ich breche zusammen.

Der Hauptgang im Ft. Douaumont 2014
Als ich wieder erwache, liege ich im Hauptgang auf einer Seitenbank mit geöffnetem Waffenrock und gelöster Halsbinde. Ein Sanitäter reicht mir einen Kognak.
»Was abgekriegt?«, fragt er. Ich taste meinen Kopf ab »Weiß nicht!« – er geht weiter.
Kalt zieht es durch den Gang – ich bin wie im Schweiß gebadet und bekomme eine Gänsehaut nach der anderen. Alle frieren sie, dösen vor sich hin und kauern sich in eine Ecke, während der Betrieb in den Gängen seinen Fortgang nimmt. Bald packt mich die Erschöpfung wieder und ich schlafe ein.



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